Heilendes Theater und Therapie. Theater mini-art und die Aufarbeitung eines gesellschaftlichen Traumas
Das Theater mini-art setzt sich seit vielen Jahren mit dem Thema Euthanasie im Nationalsozialismus auseinander, hat dazu verschiedene Theaterprojekte mit Jugendlichen und zwei Theaterstücke für Jugendliche und Erwachsene entwickelt und in der Umsetzung als dokumentarische Fiktion inszeniert:
‚Ännes letzte Reise‘ (2012), die Geschichte einer jungen Frau, die in eine psychiatrische Klinik eingeliefert und als eine der ersten von insgesamt 300.000 Patient*innen 1940 ermordet wird und ‚Das Schutzengelhaus‘ (2016), das sich mit den unerträglichen Ereignissen der ‚Kinder-Euthanasie‘ im Nationalsozialismus am Beispiel einer ehemaligen ‚Kinderfachabteilung‘ auseinandersetzt .
Dem Thema sind wir begegnet, als wir uns mit der Geschichte der über 100 Jahre alten psychiatrischen Klinik in Bedburg-Hau beschäftigt haben. Wir haben dort unsere Spielstätte in einem der leerstehenden Gebäude. Geht man über dieses Terrain mit seinen prächtigen Jugendstilgebäuden und den wunderschönen großen Bäumen, dann kann man gar nicht anders als sich zu fragen: was ist ‚damals‘ – vor inzwischen 77 Jahren – hier geschehen? Die Tatsache der Tötung von Patienten zur Zeit des Nationalsozialismus, man ahnte sie – aber zunächst wollte niemand darüber reden – im Gegenteil.
Ein professionelles Theater auf dem Gelände einer psychiatrischen Klinik
mini-art ist 1993 von uns, der Figuren- und Schauspielerin Crischa Ohler und dem niederländischen Schauspieler, Haptonomen und Dramadozenten Sjef van der Linden mit dem Schwerpunkt Kinder- und Jugendtheater gegründet worden. Seit Anfang an beschäftigen wir uns mit dem Spannungsfeld von Theater – Heilung – Therapie, ganz besonders seitdem wir seit inzwischen 20 Jahren unsere Arbeits- und Spielstätte auf dem Gelände einer Psychiatrie haben.
Einige leerstehende Räume in der psychiatrischen Klinik des Landschaftsverbandes Rheinland in Bedburg-Hau am Niederrhein waren zunächst nur als Probenraum gedacht als das Theater 1997 seinen Standort Bochum verließ und seinen Wirkungskreis am Niederrhein suchte, um verstärkt deutsch-niederländisch arbeiten zu können. Inzwischen hat es sich zum in der BRD einzigen professionellen freien, grenz- und generationsübergreifenden Theater mit einer Spielstätte auf dem Gelände einer psychiatrischen Klinik entwickelt und etabliert.
Das Theater schreibt, inszeniert und spielt Theaterstücke für Kinder, Jugendliche und Erwachsene und leitet Theater-Projekte und Weiterbildungen mit unterschiedlichen Teilnehmer*innengruppen (z.B aus Schule, Hochschule, freien Bereichen). Für seine künstlerische Arbeit ist das Theater mehrfach ausgezeichnet worden, u.a. neun Mal mit dem Kinder- und Jugendtheaterpreis des Landes NRW.
Publikum und Projektteilnehmer*innen sind seit Beginn unserer Arbeit dort vor allem Kinder und Jugendliche aus vielen Schulen der Region und Erwachsene, die von außerhalb der Klinik ins Theater kommen, aber ebenso Patient*innen und Mitarbeiter*innen aus der Klinik. Integration und Inklusion waren und sind in der Arbeit von mini-art eine Selbstverständlichkeit, lange bevor diese Begriffe politisches Postulat wurden.
Die endgültige Entscheidung für diesen Standort war und ist ganz sicher kein Zufall und er beeinflusst unsere Arbeit in einer fruchtbaren Wechselwirkung. Schon immer haben wir uns als Theatermacher für die Grenzbereiche von Gesellschaft interessiert, die im Allgemeinen lieber verdrängt werden. Immer wieder arbeiten wir in Theaterprojekten mit unterschiedlichen Stationen der Klinik, sowohl mit der allgemeinen als auch mit der forensischen Psychiatrie. In diesen Projekten entwickeln wir mit den Patient*innen und mit ihrem eigenen Material ihr eigenes Stück, das sie zum Schluss mehrere Male vor (klinikinternem und Fach-) Publikum aufführen. Dabei machen wir niemals die jeweils vorliegende Problematik zum Thema. Wir arbeiten mit Aufgaben (z.B. aus der Haptonomie = Lehre der Gefühle und Berührung), die Schritt für Schritt in die Tiefe führen, die das Sich-Einlassen in beide Richtungen ermöglichen und unentdeckte Schätze freilegen können. Die Projekte finden statt in fester Kooperation mit der Dramatherapie, d.h. es ist immer mindestens ein/e Therapeut*in dabei, mit der/dem wir in engem Austausch stehen und der/die in der eigenen Therapie mit den Prozessen weiter arbeiten kann. Die Dramatherapieabteilung in Bedburg-Hau ist in Deutschland einzigartig, da hier die Konzepte der niederländischen Dramatherapie in die Praxis umgesetzt werden.
Dramatherapie ist eine professionelle Behandlungsform, die die verwandelnde Kraft des Theaterspielens gezielt einsetzt, in der psychische und psychosoziale Prozesse beeinflusst werden.
Heilendes Theater und Therapie
Theater ist ebenso wie die Medizin aus den gleichen und gemeinsamen Wurzeln einer vorhistorischen Ur-Heilkunst entstanden. Auch das Theater der Antike zielte ganz bewusst auf
heilende und therapeutische Funktionen. In diesem Zusammenhang ist uns eine klare Abgrenzung zwischen den Begriffen ‚heilendes Theater‘ und ‚Therapie‘ wichtig.
Therapie ist ein klares Setting in einem geschützten Raum, sie setzt eine Diagnose und eine klare Verabredung zwischen Patient/Unterstützung Suchendem und dem Therapeuten mit dem Ziel der Klärung/ Heilung/ Genesung voraus.
Heilendes Theater im Sinne von Theaterkunst kann – immer im Erleben mit anderen – einen ‚inneren Raum‘ anbieten, in dem die Selbstheilungskräfte wirksam werden. Theater ist ein Spiegel des Lebens, es ist ein sehr zerbrechliches Gebilde, es ist zerbrechlich wie das Leben selbst. Als Grenzgänger auf den verschiedenen Ebenen versuchen wir als Theatermacher dem Verletzlichen und den Verletzungen, dem Unsagbaren, den Wunden und den Wundern, den leisen und poetischen Tönen Gehör, Raum und Wertschätzung zu verschaffen. Theater ist ein Erlebnis, das den ganzen Menschen anspricht, Sinne, Gefühle, Emotionen, Intellekt. Es ist eine Verbindung von Innen und Außen, in der es um das Finden der eigenen Wahrheit geht. Im Akt des Machens, Schaffens, Spielens und Schauens entstehen Prozesse in denen sich die Selbstheilungskräfte entfalten können. „In der Bindung an das Leben, besteht die eigentliche Chance des Theaters. Indem es Leben produziert … ist es vielleicht die letzte Zuflucht angewandter Menschlichkeit.“ (Tabori)
Theater und Verantwortung
An beide Stücke, in denen es um die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und um die Ermordung hunderttausender Euthanasieopfer geht, sind wir als Künstler herangegangen, die sich an bestimmten gesellschaftlichen Erscheinungsformen und Verhaltensweisen reiben, die dem auf den Grund gehen wollen und sich dabei auch auf die Suche nach einer künstlerischen Umsetzung machen.
Bei beiden Stücken war das ein langer, teils schmerzhafter Prozess. Denn das Thema ist schmerzhaft, wenn man sich in die Materie hineinbegibt, bei der es um die systematische Verfolgung und Ermordung von Menschen mit einer körperlichen und/oder geistigen Behinderung geht.
Am Anfang stand in beiden Fällen eine intensive Recherche von historischem und dokumentarischem Material. Und es war v.a. das Schweigen vielerorts, auf das wir dabei stießen, das uns besonders herausforderte. Je mehr wir uns mit diesen Fakten beschäftigten – den geschichtlichen wie den biografischen – desto unmöglicher erschien es eigentlich, darüber ein Theaterstück zu machen – weil wir für das Grauen zunächst kaum Worte fanden. Aber dann wurde es für uns immer mehr ein inneres Anliegen: Wir wollten das Unaussprechliche benennen, mit dem Benennen überhaupt erstmal eine Realität als tatsächlich Geschehenes in die Welt setzen – indem wir den unzähligen Namenlosen einen Namen gaben und dem Vergessen ein individuelles Gesicht und Schicksal entgegensetzten
Bei ‚Ännes letzte Reise‘ folgen wir dem dokumentierten Fall von Anna Lehnkering, genannt Änne, die mit einer leichten geistigen Entwicklungsstörung aufwächst, deshalb später zwangssterilisiert wird, von 1936 bis 1940 Patientin in der Heil- und Pflegeanstalt (der heutigen Klinik) Bedburg-Hau war und am 7.März 1940 als junge Erwachsene und als eine der ersten von ca. 3000 Patienten aus Bedburg-Hau in der Tötungsanstalt Grafeneck vergast wird.
Bei der Recherche zu diesem Stück stießen wir bereits auf ein weiteres Thema, das uns bis dahin in seiner ganzen Dimension und Tragweite nicht bewusst war: die Kindereuthanasie.
Nach einer 2-jährigen – auch emotionalen Pause – machten wir uns erneut auf den Weg, Fakten zu sammeln, Orte zu besuchen, Zeugen zu befragen und nach einer neuen, anderen künstlerischen Umsetzung zu suchen. In den ca.30 ‘Kinderfachabteilungen’, die in den Jahren 1940 – 1943 von den Nationalsozialisten im sogenannten ‚Deutschen Reich‘ eingerichtet wurden, wurden mehr als 10.000 körperlich und geistig behinderte Kinder oder sozial auffällige Jugendliche beobachtet, selektiert und als ‚unwertes Leben‘ durch Medikamente und Vernachlässigung gezielt ums Leben gebracht. Dafür beschlagnahmten sie u. a. auch ‚das Schutzengelhaus‘ in Waldniel-Hostert (bei Mönchengladbach), ursprünglich eine kirchliche Pflegeanstalt, heute dem Verfall und Vergessen preisgegeben, das dem Stück letztlich seinen Titel gab.
Mit beiden Inszenierungen versuchen wir ein Stück verdrängter deutscher – und damit auch in unmittelbarer Umgebung stattgefundener, regionaler – Geschichte aufzuarbeiten, die für viele Menschen immer noch ein Tabu ist, etwas, was man nicht wissen, womit man sich nicht beschäftigen möchte.
So begreifen wir unsere Arbeit als Beitrag zur Aufarbeitung eines gesellschaftlichen Traumas, in der Bedeutung des Wortes: der Heilung alter Verletzungen und Wunden.
Denn wir sind davon überzeugt, dass Gegenwart ohne die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit nicht wirklich zu verstehen ist und Zukunft nicht bewusst gestaltet werden kann, dass Verdrängtes sich oftmals auf unbewusste Art und Weise seinen Weg an die Oberfläche sucht und Vergangenes sich damit auf anderen Ebenen wiederholen kann.
Wir erkennen uns wieder in der Definition von Augusto Boal, der sich damit vor allem gegen das bürgerliche Theater abgrenzt: „Auch in mir und in jedem anderen steckt Veränderungskraft. Diese will ich freisetzen und entwickeln.“ Wir sind der Überzeugung, dass einer Veränderung ein emotionaler und geistiger Prozess vorausgeht, diesen Prozess kann Theater in Gang setzen.
Die künstlerische Umsetzung als dokumentarisch-fiktive Erzählform
In beiden Stücken arbeiten wir mit einer Mischung von dokumentarischen Fakten und eigenen Assoziationen und Phantasien. Das spiegelt sich in den Texten wieder, im Schauspiel, in den Projektionen, in der Wahl von Figuren und Objekten. Entscheidend war für uns, dass wir das Geschehen – die systematische Vernichtung von allem sogenannten ‚unwertem Leben‘ und die dahinterstehende Ideologie – nicht ent-historisieren wollten, dass wir das damalige gesellschaftliche Klima, die politischen Machtverhältnisse, das Denken der Menschen mit einbeziehen wollten. Uns lag vor allem daran, die Menschen, die in den Stücken vorkommen selber zu verstehen und sie so für das Publikum nachvollziehbar, spürbar zu machen, sowohl Opfer als auch Täter.
Wir wissen aus Erfahrung, dass gerade Jugendliche sich dann ernsthaft für Geschichte beginnen zu interessieren, wenn sie durch individuelle Schicksale – sowohl der Opfer als auch der Täter – menschlich nachvollziehbar, erfahrbar und spürbar wird und sie dadurch einen ganz anderen Bezug zu ihrer eigenen Wirklichkeit herstellen können. Oftmals ist das Stück für sie Anlass für weitere Recherche.
Und wir haben uns versucht vorzustellen: wie wäre das gewesen, wenn wir zu der Zeit gelebt hätten. Hätten wir anders denken können, wären wir Täter oder Mitläufer, Mitwisser oder Gegen-den-Strom-Schwimmer gewesen?
„Das poetische Erzählen hat – ganz im Gegensatz zum trivialen – erst in zweiter Instanz die Ordnung des Materials zum Ziel; in erster Instanz zielt es auf die innere Ordnung des Zuschauers.“ (Wolf Otto Pfeiffer, Berlinische Poetologie)
Viele Menschen reagieren nach den Vorstellungen berührt, erschrocken, fassungslos: Jugendliche, die das Stück zunächst für ‚fake-news‘ halten und nicht glauben können, dass das alles wirklich geschehen ist; Jugendliche aus der Kinder- und Jugendpsychiatrie mit der Reaktion „früher hätten sie mich wahrscheinlich auch erwischt, weil ich anders bin“; Mitarbeiter der Klinik, die sich bedanken weil endlich „offen darüber geredet werden kann“; oder Reaktionen von Jugendlichen und Erwachsenen bei Aufführungen in den neuen Bundesländern, die uns besonders erschüttert haben: die uns mutig finden und sich fast flüsternd äußern „dass ihr euch so ein Thema öffentlich darzustellen traut“.
„Eine Analyse unserer Gegenwart wird von drei Entwertungen dominiert: der Entwertung der Erinnerung, der Entwertung der Bindungen und der Entwertung kollektiver Entwicklungen…. Wir befinden uns kulturell in einer ungeheuren Suchbewegung.“ (Soziologe und Philosoph Oskar Negt).
Dieser Suchbewegung gegen das Vergessen, gegen soziale Kälte und Abwertung von allem, was ‚anders‘ ist, was der stromlinienförmigen Angepasstheit als gesellschaftlicher Norm nicht entspricht, gegen Hass und Gleichgültigkeit dem Schicksal anderer gegenüber fühlen wir uns auch in Zukunft in unserer künstlerischen Arbeit zutiefst verpflichtet.
Vielleicht kann Theater so auch grundsätzlich ein ‚positives Trauma‘ schaffen, nicht im Sinne von Verletzung sondern von ‚einen Eindruck‘, Spuren hinterlassen, etwas in Bewegung und die Menschen zu sich selber bringen. So dass sie Theater als etwas Wundervolles und Bereicherndes erfahren, ein Verlangen danach entsteht und es ein Bestandteil ihres Lebens wird.
Crischa Ohler, Theater mini-art, Bedburg-Hau, August 2017
(Die gekürzte Fassung dieses Artikels ist erschienen in: double 2/17 – Theater der Zeit. Post-traumatisches Theater?)